Dienstag, Oktober 8, 2024

Die Kiewer Rus

Kiewer Rus um die Jahrtausendwende
anonym, KiewerRus, CC BY-SA 3.0Die Kiewer Rus war ein mittelalterliches Großreich, das als Vorläuferstaat der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Weißrussland angesehen wird. Der Ausdruck kann auch als Bezeichnung der Epoche in der Geschichte der Rus verstanden werden, in der Kiew als Großfürstensitz das politische und kulturelle Zentrum der Rurikiden-Dynastie war.

Begriff

Die Bezeichnung „Rus“ erhielten die Herrschaftsgebiete des Waräger-Geschlechts der Rurikiden, das nach ihrem Stammesfürsten Rjurik benannt ist. Die mittelalterlichen Quellen nennen dieses Land „Rus“ oder „russisches Land“. Es bildete eine Handelskette zwischen Ostseeraum, Schwarzem Meer und Bosporus. Der Begriff „Kiewer Rus“ wurde im 19. Jahrhundert vom russischen Historiker Nikolai Karamsin geprägt, um dieses Kiewer Reich gegen die späteren Fürstentümer Wladimirer Rus und Moskauer Rus abzugrenzen.

Die modernere russische und weißrussische Wissenschaft tendiert dazu, den Sammelbegriff Altrussischer Staat zu verwenden. Der Grund dafür ist, dass der Begriff „Kiewer Rus“ den Beginn der Staatlichkeit in Nowgorod unter Rurik vor der Verlegung der Hauptstadt nach Kiew im Jahre 882 traditionell zwar mitumfasst, aber vom Namen her nicht berücksichtigt.

Eine nationalstaatliche Sichtweise auf mittelalterliche Vielvölkerreiche wie das Kiewer Reich wird ihrer multiethnischen Zusammensetzung nicht gerecht. Die Kiewer Rus war kein ukrainischer oder russischer Nationalstaat, der ethnisch relativ einheitlich gewesen wäre und aus dem sich im Zuge der weiteren Expansion das spätere polyethnische und multireligiöse Russland entwickelt hätte. Es war selbst schon ein dynastischer Herrschaftsverband, in dem neben Slawen auch finnugrisch-, baltisch- und turksprachige (Tataren) Stämme lebten.

Geschichte

Waräger in Gardarike

Seit dem 8. Jahrhundert fuhren skandinavische Fernhändler (Waräger) die Flüsse Dnjepr und Don entlang auf dem Weg ins Byzantinische Reich. Um 750 gründeten sie die erste Siedlung in Ladoga. In skandinavischen Texten und Runensteinen wird das Gebiet als Gardarike bezeichnet.

Das Gebiet wurde in dieser Zeit von finno-ugrischen, baltischen und slawischen Gruppen besiedelt.

Nowgoroder Rus

862 riefen die Stämme der Tschuden, Wes, Kriwitschen und Slowenen angeblich einen skandinavischen Waräger Rjurik und seine Brüder Truwor und Sineus, um über sie zu herrschen. Rjurik begann im Jahr 862 in Weliki Nowgorod zu herrschen und wurde zum Begründer der Rurikiden-Dynastie, die Russland bis ins Jahr 1598 regieren sollte.

Gründung der Kiewer Rus

882 eroberte Fürst Oleg Kiew, das bis dahin von Askold und Dir beherrscht worden war. Er verlegte die Hauptstadt dorthin und begründete damit die Kiewer Rus.

Die Rus kontrollierten nun den gesamten Handelsweg zwischen der Ostsee und dem Schwarzen Meer. Um diese Hauptader herum wuchs von nun an ihr Staat.

Der Staat umfasste bald alle ostslawischen Gebiete und erstreckte sich von den großen Handelsstädten Alt-Ladoga, Nowgorod und Beloosero im Norden bis zu den Schwarzmeer-Exklaven Beresan und Tmutorokan im Süden. In Ost-West-Richtung erstreckte es sich von den alten slawischen Städten Galitsch und Isborsk im Westen bis zu den Neugründungen Jaroslawl und Murom im Osten. Dort stießen die slawischen Siedler zunehmend in dünn besiedelte finno-ugrische Gebiete vor, gründeten neue Städte und assimilierten die lokale Bevölkerung. Im Süden des Reiches lag, nicht weit von Kiew, die Grenze zum sogenannten Wilden Feld. Unter diesem Namen waren die Steppengebiete bekannt, aus denen immer wieder Angriffe der turkstämmigen Reiternomaden erfolgten. Die Rus stellten zunächst den Großteil der Adels-, Händler- und Kriegerschicht des Staates. Die dominierende Kultur und Sprache war Slawisch.

Blüte

Wladimir-Statue in Kiew (1853) am Ufer des Dnepr, wo der Legende nach die christlich-orthodoxe Taufe der Rus stattfand.
Sergiy Klymenko, Vladimir by klodt, CC BY-SA 3.0

Das 10. Jahrhundert kennzeichnete den Höhepunkt der Kiewer Macht: Oleg von Kiew konnte nach einem erfolgreichen Feldzug gegen Konstantinopel 907 dem Byzantinischen Reich einen Diktatfrieden mit zahlreichen Handelsprivilegien für Kiew aufzwingen. Fürst Swjatoslaw zerstörte das Chasaren-Reich und eroberte vorübergehend weite Teile des Balkans, unter anderem das Bulgarische Zarenreich.

Durch den hauptsächlich auf Konstantinopel ausgerichteten Handel kam es, trotz anfänglicher Eroberungsversuche seitens der Rus, zu engen Kontakten mit Byzanz, die zur christlichen Missionierung und schließlich im Jahre 988 in der Herrschaftszeit Wladimirs des Heiligen zum Übertritt der Rus zum orthodoxen Glauben führten.

Die Kiewer Fürsten waren hoch angesehen und heirateten in ganz Europa; so schlossen sie dynastische Verbindungen unter anderem mit Norwegen, Schweden, Frankreich, England, Polen, Ungarn, dem Byzantinischen Reich und dem Heiligen Römischen Reich. Eine kulturelle Blütezeit erreichte die Kiewer Rus unter den Großfürsten Wladimir dem Heiligen (Herrschaftszeit 978–1015) und Jaroslaw dem Weisen (1019–1054). Letzterer ließ im ganzen Reich nach byzantinischem Vorbild viele Kirchen, Klöster, Schreibschulen und Festungsanlagen errichten, reformierte die ostslawische Gesetzgebung, hielt sie erstmals schriftlich fest und gründete in Kiew die erste ostslawische Bibliothek.

Die Kiewer Rus war jedoch ähnlich wie das Heilige Römische Reich kein einheitlicher Staat, sondern bestand aus einer Vielzahl von autonomen Teilfürstentümern, die von den Rurikiden regiert wurden. Einer von ihnen erbte jeweils nach dem Senioratsprinzip die Großfürstenwürde und zog zum Regieren nach Kiew. Zu den russischen Teilfürstentümern zählten im 11. und 12. Jahrhundert Kiew, Tschernigow, Perejaslaw, Smolensk, Polozk, Turow-Pinsk, Rostow-Susdal, Murom-Rjasan und Galizien-Wolhynien sowie die Republik Nowgorod.

Zerfall

Die Kiewer Rus litt während ihres gesamten Bestehens an der geographischen Randlage in Europa an der Grenze zum sogenannten Wilden Feld. Wegen des Fehlens natürlicher Barrieren kamen aus den südlichen und südöstlichen Steppen immer neue Reitervölker wie Alanen, Petschenegen oder Kyptschaken (Polowzer), die das Reich mit ihren Überfällen immer im Kriegszustand hielten. Um sich gegen die Nomaden zu schützen, wurden an der Südgrenze neue Festungen gegründet und Verteidigungslinien wie die Schlangenwälle genutzt. Nicht selten war jedoch die aus Berufskriegern zusammengestellte Druschina des Großfürsten gegen die riesigen Reiterheere machtlos. Von einem solchen unglücklichen Feldzug gegen die Polowzer handelt das altrussische Igorlied.

Russische Teilfürstentümer zwischen 1054 und 1132.
SeikoEn, Principalities of Kievan Rus‘ (1054-1132), CC BY-SA 3.0

Ein anderes großes Problem war die Erbfolgeregelung nach dem Senioratsprinzip, die bei fast jedem Thronwechsel in Kiew zu kriegerischen Feudalfehden unter den rurikidischen Anwärtern und ab der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts zur zunehmenden Unabhängigkeit der einzelnen Fürstentümer sowie zum Herabsinken der führenden Rolle Kiewer Rus führten. Nach dem Tod der einflussreichen Großfürsten Wladimir Monomach (1125) und seines Sohnes Mstislaw I. (1132), die die zerstrittenen Fürsten noch einmal unter der Oberherrschaft Kiews einen konnten, kam es zum endgültigen Zerfall der Kiewer Rus. Zugleich setzte die Migration großer Teile der Bevölkerung in den Nordosten ein, um den sich häufenden Überfällen der Steppennomaden sowie den tobenden Feudalkriegen um den Kiewer Großfürstenthron zu entgehen. Unter Juri Dolgoruki wurden in dieser „Salessje“ („Land hinter dem Wald“) genannten Region zahlreiche Städte gegründet, das politische Gewicht der neubesiedelten Gebiete stieg rasant. Sein Sohn Andrei Bogoljubski, Fürst von Wladimir-Susdal, konnte 1169 Kiew einnehmen und die Großfürstenwürde an sich reißen. Als erster Großfürst löste er diese vom Standort Kiew und regierte fortan aus Wladimir.

Die feudale Zersplitterung der Rus erleichterte es den ab 1223 einfallenden Mongolen, die ostslawischen Fürstentümer nacheinander zu unterwerfen.

Zeittafel

  • ca. 750: Skandinavische Siedlung in Staraja Ladoga (Alt-Ladoga).
  • ca. 838: Entstehung eines Staates Rus am Dnepr/Dnipro.
  • 844: Ibn Chordadhbeh schreibt nieder, dass die Rus „Eunuchen, männliche Sklaven, weibliche Sklaven, Biber- und Marderfelle sowie andere Pelze“ verkaufen.
  • 854–856: Wahrscheinliche Ankunft von ‚Fürst‘ Rjurik aus Skandinavien in Rurikowo Gorodischtsche.
  • ca. 858: Rjurik erobert das Gebiet um Kiew, das zu der Zeit unter magyarischer und chasarischer Oberherrschaft stand.
  • 859: Laut Nestorchronik erheben die Waräger Zins von den Slawen, Finnen und Esten.
  • 860: Erster Angriff der Rus auf Konstantinopel.
  • 862: Laut Nestorchronik kommt es zu Kämpfen zwischen Einheimischen und Warägern, die zur Vertreibung der Waräger führen. Danach reist eine Delegation der Slawen, Finnen und Esten nach Schweden und lädt die warägischen Rus dazu ein, über die zerstrittenen Stämme zu herrschen.
  • 864–883: Die Rus überfällt und plündert islamische Städte am Kaspischen Meer.
  • 865: Erneuter Angriff der Rus auf Konstantinopel.
  • ca. 868: Die Rus unter Askold und Dir übernimmt die Kontrolle über die slawische Stadt Kiew.
  • 882: Oleg/Helgi wird Fürst von Kiew: Gründung der Kiewer Rus durch die Vereinigung der Warägerherrschaften im Norden (um Nowgorod) mit denen im Süden (um Kiew).
  • 902: 700 Söldner aus der Rus sind in byzantinischen Diensten an einer Militäraktion auf Kreta beteiligt.
  • 907–913: Feldzüge der Rus gegen das Byzantinische Reich sowie gegen islamische Länder. Ahmad ibn Rustah verzeichnet den Titel Kagan für die Rus-Fürsten.
  • 907: Flottenangriff der Rus auf Konstantinopel, der byzantinische Kaiser zahlt Tribut und bietet Handelsprivilegien an.
  • 920: Der arabische Handelsreisende Ibn Fadlan trifft die Rus in Bolgar an der Wolga und schreibt seinen berühmten Bericht über die Wikinger der Rus.
  • ca. 930: Igor, Fürst der Wolga-Rus, übernimmt die Herrschaft in Kiew.
  • 944: Friedensvertrag zwischen der Kiewer Rus und dem Byzantinischen Reich.
  • ca. 945: Der aufständische Stamm der Drewljanen tötet Igor. Olga wird Fürstin von Kiew.
  • 955: Swjatoslaw, der Sohn von Igor/Ingvarr und Olga/Helga lässt sich taufen, bleibt aber nur oberflächlich christianisiert.
  • 957: ernst gemeinte Taufe von Fürstin Olga durch byzantinische Priester.
  • 965–969: Die Rus unter Swjatoslaw zerstört die Festung Sarkel und Itil, die Hauptstadt des Chasarenreichs, überfällt islamische Gebiete, erobert Küstengebiete an der Ostsee und führt Krieg gegen die Wolga-Bulgaren, um die östlichen Handelswege in den Orient unter ihre Kontrolle zu bekommen.
  • 967–969: Feldzug der Rus unter Swjatoslaw quer durch den ganzen Balkan. In Bulgarien nimmt Swjatoslaw 80 Städte an der Donau ein und legt sich den Zarentitel des bulgarischen Herrschers zu, der zum Vasall des russischen Großfürsten degradiert wurde. Swjatoslaw verkündet die geplante Verlegung seiner Hauptstadt von Kiew nach Preslaw an der Donau, weil dort „der Mittelpunkt seines Reiches läge“.
  • 969: Die Rus vernichtet das Reich der Chasaren, kann es jedoch nicht effektiv unterwerfen.
  • 971: nach einer verheerenden Niederlage gegen die byzantinische Armee trifft Swjatoslaw an der Donau mit dem byzantinischen Kaiser Johannes Tsimiskes zusammen und schließt mit ihm einen Friedensvertrag, der ihn zum Verzicht auf Bulgarien und zur Rückkehr in die Kiewer Rus verpflichtet. Der byzantinische Chronist Leo Diaconus schreibt daraufhin sein berühmtes Porträt von Swjatoslaw nieder (‚blond, blauäugig, Schnurrbart, rasiertes Haar bis auf zwei Haarlocken‘).
  • 972: Swjatoslaw wird auf dem Rückweg in sein Reich an den Dnjepr-Stromschnellen von Petschenegen getötet.
  • 972–980: Jaropolk I. ist Fürst von Kiew.
  • 980–982: Wladimir Swjatoslawitsch wird Großfürst von Kiew und schlägt Aufstände slawischer Stämme nieder.
  • 987: Wladimir Swjatoslawitsch lässt sich von byzantinischen Priestern in Kiew taufen. Daraufhin heiratet er die purpurgeborene byzantinische Prinzessin Anna. Damit wird dem Fürsten der Rus als bis dato einzigem europäischen Herrscher die Ehre zuteil, eine Tochter eines Kaisers von Byzanz zu ehelichen. Dem deutschen Kaiser Otto II. ist diese Ehre kurz zuvor verwehrt worden.
  • 988: Großfürst Wladimir I. (der Heilige) bekehrt die Rus zum orthodoxen Glauben. In Kiew werden heidnische Tempel zerstört und slawische Götzenbilder in den Dnjepr geworfen.
  • 990–1015: Krieg zwischen der Rus und den Petschenegen.
  • 1024: Schlacht von Listwen: Im Kampf der Söhne Wladimirs um die Nachfolge unterliegt Jaroslaws Warägertruppe unter Jakun den slawischen Kontingenten seines Bruders Mstislaw.
  • 1043: Letzter Flottenangriff der Kiewer Rus auf Konstantinopel, der erfolglos endet.
  • 1093: Kumanen (Kiptschaken) überrennen kurzzeitig Kiew unter Tugorkhan, dieser fällt jedoch 1096 gegen die Russen.
  • 1097: auf dem Fürstenrat von Ljubetsch wird das Senioratsprinzip durch die Primogenitur ersetzt
  • 1113–1125: Wiedererstarkung der zentralisierten Macht in Kiew durch Wladimir Monomach.
  • 1185: Feldzug des Fürsten Igor Swjatoslawitsch von Nowgorod-Sewersk gegen die Kumanen, der im Igorlied beschrieben ist.
  • 1223: Zum ersten Mal erscheinen die Mongolen in der Rus; die Schlacht an der Kalka endet mit einer bitteren Niederlage für die Rus.
  • 1237–1239: Erster Zug der Mongolen unter Batu durch die nördliche Rus.
  • 1240–1242: Zweiter Zug der Mongolen unter Batu durch die südliche Rus und Zerstörung von Kiew am 6. Dezember 1240 nach siebentägiger Belagerung. Dieses Ereignis betrachten manche als Ende der Kiewer Rus.

Aktuelle unterschiedliche Interpretationen

Das Erbe der Kiewer Rus ist heute in der russischen, ukrainischen und weißrussischen Historiographie teilweise umstritten. Dabei handelt es sich bei dieser Auseinandersetzung nicht um eine wissenschaftliche, sondern eine politische Frage.

Russische Darstellung

Eine direkte Herrschaftsfolge zwischen dem Kiewer und Moskauer Reich ist in das russische Geschichtsverständnis eingegangen, da sich die rurikidischen Moskauer Großfürsten und Zaren als direkte Nachfahren und die einzig verbliebenen legitimen Erben der Kiewer Fürsten sahen. Darüber hinaus wird in der russischen Historiographie das Kiewer Reich traditionell als einheitliches ostslawisches (russisches) Reich verstanden. In der Zarenzeit herrschte die Ansicht vor, dass es sich bei den Groß-, Klein- und Weißrussen um drei Linien des russischen Volkes handelt, das schon zur Zeit der Kiewer Rus bestand. In der Sowjetunion hatten die Ukrainer und die Weißrussen im Gegensatz dazu den Status eigenständiger Völker, die sich jedoch, wie auch das russische, aus einem zwischenzeitlich vollständig herausgebildeten altrussischen Volk entwickelt haben soll. Sowohl das Russische Kaiserreich als auch die Sowjetunion besaßen das Selbstverständnis eines „gemeinsamen Staates der Ostslawen“ und sahen sich nicht nur dazu berechtigt, sondern auch in der historischen Pflicht, alle ostslawisch geprägten, ehemaligen Gebiete der Kiewer Rus in sich zu vereinen.

Ukrainische Sichtweise

Die moderne ukrainische Historiographie beansprucht das Erbe der Kiewer Rus vor allem für die Ukraine und verweist darauf, dass das Gebiet um Kiew deren Kernland war. Die ersten im 18. und 19. Jahrhundert tätigen ukrainischen Historiker bestritten zwar nicht die enge Verwandtschaft der Klein- und Großrussen, kritisierten jedoch den vorherrschenden Moskau-Zentrismus bei der Frage des kulturellen und politischen Erbes der Kiewer Rus. Spätere Historiker wie Mychajlo Hruschewskyj versuchten hingegen, in teilweiser Anlehnung an die traditionelle polnische Historiographie, die Beziehung der Großrussen zur Kiewer Rus auf ein Minimum zu reduzieren und die Ukrainer (Ruthenen) als die einzig legitimen Erben der Kiewer Rus darzustellen. Vor allem seit der Unabhängigkeit der Ukraine im Jahr 1991 wird die Kiewer Rus in den Werken vieler Publizisten als ukrainischer Staat dargestellt.

Weißrussische Darstellung

In der weißrussischen Historiographie gibt es verschiedene Sichtweisen auf die Kiewer Rus. Während in der akademischen Geschichtswissenschaft überwiegend die russische und sowjetische Interpretation vertreten wird, messen nationalpatriotische Publizisten der Kiewer Rus eher eine geringe Bedeutung für die weißrussischen Geschichte bei. Die Ethnogenese der Weißrussen wird als ein unabhängiger Prozess auf der Basis der lokalen slawischen und baltischen Stämme angesehen. Politisch und kulturell identifizieren sie sich vor allem mit dem Großfürstentum Litauen, in dem Weißrussland ein Goldenes Zeitalter erlebt haben soll und dessen Errungenschaften sie vor allem den Weißrussen zuschreiben.

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